Irene Sommerfeld-Stur - Unsere Expertin für Hunde

Dr. Irene Sommerfeld-Stur

Hundeexpertin Dr. Irene Sommerfeld-Stur
Foto Henk, Stockerau

Irene Sommerfeld-Stur ist promovierte und habilitierte Tierärztin und hat sich hauptsächlich mit Fragen der Genetik und Zuchtwahl beschäftigt.

Von 1973 bis zu ihrem Ruhestand 2012 arbeitete Irene Sommerfeld-Stur am Institut für Tierzucht an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Von ihrem ersten Fachgebiet der Blutgruppengenetik bei Haustieren kam sie schließlich zum Thema „Hund“: Irene Sommerfeld-Stur befasste und befasst sich auch heute noch mit der Problematik von Erbfehlern und Qualzucht, aber auch populationsgenetischen Fragestellungen, Verhaltensgenetik und Fragen der genetischen Vielfalt. Heute ist die Populationsgenetikerin eine bekannte Expertin zum Thema Hundezucht.

Seit einigen Jahren betreibt sie eine Webpage mit Informationen über genetische Themen für Hundezüchter und –halter. Zusätzlich bietet Irene Sommerfeld-Stur genetisch-züchterische Beratung sowie Vorträge für Züchter und Zuchtverbände an. Auch als Autorin ist sie im Dienste des Hundes tätig: Im Frühjahr 2016 kam ihr Buch „Rassehundezucht – Genetik für Züchter und Halter“ heraus.

Schon seit vielen Jahren besitzt Irene Sommerfeld-Stur eigene Hunde: Früher hatte sie vor allem Irish Terrier, derzeit lebt sie mit einer Japan-Spitz-Hündin und einer spanischen Wasserhündin gemeinsam mit ihrem Mann auf einem alten Bauernhof in Niederösterreich.

Veranstaltungen mit Dr. Irene Sommerfeld-Stur

Bücher von Dr. Irene Sommerfeld-Stur (Werbung)

Fragen an unsere Hundeexpertin Dr. Irene Sommerfeld-Stur

Thema: Die Frage nach dem WARUM?

Warum bist du eigentlich Hundetrainer, bzw. Hundeexperte geworden?

„Auf den Hund gekommen bin ich privat und beruflich erst relativ spät. Und das obwohl das Interesse an Hunden schon in frühster Kindheit geweckt wurde. Es war Remo, der Foxterrier meines Onkels, bei dem ich gelegentlich ein paar Ferientage verbrachte, der die Initialzündung lieferte.

Dann gab es eine lange Hundepause, denn zu Hause gab es von Seiten der Eltern zu Hunden ein striktes „Nein“, und beruflich hatte ich mich nach dem Abschluss meines Studiums zunächst mit der Genetik von Nutztieren beschäftigt. Privat hatte ich zu der Zeit bereits einen Hund, denn das Institut für Tierzucht, an dem ich nach Beendigung meins Studium arbeitete, hatte einen sehr hundefreundlichen Chef, der die Mitnahme von Hunden zur Arbeit gestattete.

Und eben dieser Chef war es dann auch, der mich beruflich auf den Hund brachte. Es schlug mir vor, mit ihm gemeinsam ein Buch über Hundezucht zu schreiben. Ich stimmte zu, in der naiven Vorstellung, dass zwischen Hunden und Nutztieren kein so großer Unterschied sein könne. Das Buch wurde ein Erfolg und obwohl ich recht schnell draufgekommen bin, dass zwischen Hundezucht und Nutztierzucht ein himmelweiter Unterschied besteht, haben mich die Hunde beruflich und auch privat bis heute nicht mehr losgelassen.“

Thema: Hunde im Bett

Dürfen, bzw. dürften deine Hunde mit im Bett schlafen? Warum, bzw. warum nicht?

Diesmal eine für mich ganz aktuelle Frage.

Also…meine Hunde dürften im Bett schlafen….dürfTen deshalb, weil ich bis jetzt immer nur Hunde hatte, die daran gar nicht besonders interessiert waren. Sie kamen, bzw. kommen allenfalls mal für kürzere oder längere Kuscheleinheiten ins Bett, zum eigentlichen Schlafen haben aber alle ihr Körbchen bzw. ihre Box bevorzugt. Nun ist aber gerade erst gestern ein neuer Welpe eingezogen der die erste Nacht fast durchgehend im Bett verbracht hat – mal sehen ob es dabei bleibt.

Und warum meine Hunde im Bett schlafen dürfen? Ganz einfach, weil ich ihre Nähe mag. Kontaktliegen ist für mich ein Teil der sozialen Interaktionen den ich sehr schätze – Oxytocinjunkie, der ich bin…

Thema: Balljunkies

Führt das Ballwerfen (oder andere Gegentsände) immer zum Junkietum?

Das ist eine Frage, die zwar ein bisschen neben meinem Fachbereich liegt, aber die Genetikerin in mir (und langjährige Hundehalterin) muss natürlich trotzdem auch ihren Senf dazugeben.

Also: wenn man bedenkt, dass bei der Entstehung eines Junkies - ob Ball oder was auch immer - verschiedene genetisch codierte Neuropeptide sowie deren ebenfalls genetisch codiertes funktionelles Umfeld (Rezeptoren, Transportproteine, Enzyme) beteiligt sind, dann liegt es auf der Hand, dass es in Bezug auf die Reaktivität auf verschiedene Reize durchaus große individuelle Unterschiede geben muss. Und daraus folgert dann auch, dass nicht bei jedem Hund das Werfen eines Balles dazu führt, dass er sein Leben lang nichts anderes als Bälle zu jagen, im Kopf hat.

Genetische Unterschiede können da bei einerseits die Reaktivität überhaupt betreffen, also die Höhe der Reizschwelle, auf der anderen Seite auch das Ziel des Junkietums. Es mag also Hunde geben, denen Bälle völlig egal sind, die aber eine hohe Appetenz auf Futter, oder Streicheln, oder Spazierengehen, oder Hasen jagen oder den Lieblingsfeind in Nachbars Garten entwickeln.

Vielleicht könnte man die Frage auch noch ein bisschen einfacher beantworten: Wenn man die ungeheure Komplexität und Vielfalt der genetischen Grundlagen eines Hundes bedenkt und dazu die ungeheure Komplexität und Vielfalt der Umwelteinflüsse denen Hunde im Laufe ihres Lebens ausgesetzt sind, dann gibt es definitiv NICHTS das bei Hunden IMMER zu ganz bestimmten Reaktionen führt.

Thema: Sind Mischlinge gesünder?

Im Volksmund hört man öfter: "Mischlinge sind immer gesünder, als Rassehunde!" Darf man dies überhaupt so pauschalisieren und was ist dran an dieser Aussage?

Wie für viele Mythen in der Hundewelt gilt auch für diesen: So stimmt es nicht.

Interessanterweise gibt es zu diesem Thema nur wenig an wissenschaftlicher Evidenz. Ich kenne nur zwei Studien die sich konkret mit der Frage beschäftigen ob Mischlinge generell gesünder sind als Rassehunde. Eine dieser Studien habe ich selber im Rahmen einer Dissertationsarbeit betreut. Die Ergebnisse der beiden Studien sind vergleichbar. Es gibt einzelne Erkrankungen, die bei Rassehunden häufiger auftreten als bei Mischlingen – das sind u.a. Erkrankungen, die sich aus bestimmten Rassestandards ergeben – insgesamt ist aber die Erkrankungshäufigkeit bei Mischlingen genauso hoch wie bei Rassehunden. Einen Vorteil haben Mischlinge gegenüber Rassehunden, das ist die um etwa ein Jahr höhere Lebenserwartung und zwar unabhängig von der Größe – das zeigt sich übereinstimmend in ebenfalls zwei Studien.

Der Grund, warum es kaum Studien zu dieser Fragestellung gibt, liegt allerdings auf der Hand. Es ist nur sehr schwer möglich an repräsentative Gesundheitsdaten von Hunden zu kommen. Die verfügbaren Daten, die aus Klinik- oder Versicherungsarchiven, Besitzerbefragungen oder Zuchtverbandskarteien stammen, unterliegen alle einer mehr oder weniger großen Auswahlverzerrung, so dass auch die Ergebnisse mit mehr oder weniger großer Vorsicht zu interpretieren sind. Dazu kommt, dass es zwischen Hudnerassen sehr große Unterschiede sowohl was die Häufigkeit verschiedener Erkrankungen als auch was die Lebenserwartung betrifft, gibt.

Und so kann man die Frage nach den gesünderen Mischlingen auch pragmatisch beantworten: Mischlinge haben auf Grund ihrer größeren genetischen Vielfalt und damit verbundener besserer Anpassungsfähigkeit eine größere Chance auf ein gesundes langes Leben als manche Rassehunde. Das erhöhte Krankheitsrisiko vieler Rassehunde ergibt sich außerdem einerseits aus extremen Rassemerkmalen, anderseits aus der Anhäufung spezifischer Defektgene in vielen Rassepopulationen. Diese Defektgene können bei Mischlingen zwar natürlich genauso vorhanden sein, die Wahrscheinlichkeit, dass sie im homozygoten Genotyp auftreten und es damit zu einer phänotypischen Manifestation der Erkrankung kommt, ist aber – je nach genetischer Zusammensetzung des Mischlings – geringer als in der jeweiligen reinen Rasse.

Um die Frage also abschließend zu beantworten: Mischlinge haben eine größere Chance gesund zu sein als Rassehunde, eine Garantie auf Gesundheit haben sie aber definitiv nicht.

Thema: Welches Hundebuch ist dein Favorit

Welches "Hunde"-Buch ist euer heimlicher Favorit und was begeistert euch an diesem Buch so sehr?

Tja, das ist genau genommen eine ziemlich gemeine Frage. Denn wie soll ich unter den zahllosen guten Hundebüchern, die in meinem Bücherkasten bzw. auf meinem Kindle zu finden sind, eines heraussuchen. Nach langem Nachdenken sind es zwei, die ich hier nennen möchte. Sie zeichnen sich u.a dadurch aus, dass ich sie beide doppelt habe. Das hat mit meinem häuslichen Chaos zu tun. Denn beide waren mal vorübergehend unauffindbar und sie nicht in meinem Besitz zu haben ging gar nicht. Also habe sie ein zweites Mal bestellt, und wie das eben so ist, kaum war das zweite Exemplar im Haus, ist das erste wieder aus dem Chaos aufgetaucht....;)

Aber nun zu den Büchern:

Das wäre mal das Buch „Hunde“ von Ray und Lorna Coppinger, das ich sogar dreifach, einmal in der englischen Fassung, besitze. Dieses Buch hat mein Verständnis von den Vorgängen die zur Domestikation des Hundes und zur Entwicklung unserer heutigen Rassen geführt haben, sehr nachhaltig geprägt. Ein Buch, das vollgepackt ist mit Wissen und Erfahrung, das aber auch unterhaltsam zu lesen ist.

Als zweites möchte ich das Buch von Eric H.W. Aldington und Friederun Stockmann „Vom Körperbau des Hundes“ anführen. Dieses Buch war für mich die Basis des Verständnisses der biomechanischen Grundlagen des Hundekörpers. Empfehlen würde ich dieses Buch jedem, der über die reine „Schönheitsbeurteilung“ von Hunden hinaus auch die Funktionalität eines Hundekörpers verstehen will. Wenn jeder Züchter und jeder Formwertrichter dieses Buch als Pflichtlektüre verordnet bekäme, und die Erkenntnisse daraus auch in seine Arbeit einfließen lassen würde, dann wäre das eine wichtiger Schritt in Richtung gesündere Rassehundehunde.

 

Viele Grüße

Irene

Thema: Der zähnefletschende Hund

Vor dir steht ein zähnefletschender, unbekannter Hund, was würdest du tun?

Ich hoffe, dass er gefräßig ist, nehme eine Handvoll der immer vorhandenen Leckerlis aus meiner Tasche und schmeiße die möglichst weit weg von mir. Während er frisst (hoffentlich) ziehe ich mich ganz langsam zurück.

Thema: Einführung eines "Wesenstest"

"Würde die Einführung eines "Wesenstest" für Zuchthunde der aktuellen Entwicklung von vermehrt unverhältnismäßigem Aggressionsverhalten beim Hund entgegenwirken oder spielt die Entfremdung der Mensche

Da wäre zunächst mal die Überlegung anzustellen, wie viele der aggressiven Problemhunde denn tatsächlich Hunde von einem seriösen Züchter sind. Denn eine der Hauptursachen für Problemverhalten jeder Art liegt m.E. in einer unzureichenden Frühsozialisation. Bei Hunden die von seriösen Züchtern stammen, kann man in den meisten Fällen davon ausgehen, dass die Welpen in einem Umfeld aufwachsen in dem die wichtigsten Bedürfnisse eines Hundebabys erfüllt sind. Probleme, die aus unzureichender Frühsozialisation herrühren, sind in erster Linie bei solchen Hunden zu erwarten, die aus Billigimporten aus Osteuropa stammen, wo sowohl die Mutterhündinnen als auch die Welpen unter inadäquaten Bedingungen gehalten werden und zudem die Welpen viel zu früh von der Mutter getrennt werden.

Die Probleme, die mit dem zu frühen Absetzen verbunden sind, werden sehr schön in einer Studie von Pierantoni et al. (2014) beschrieben. Eines der in dieser Studie beschriebenen Problemverhalten ist Aggression gegen Fremde bei Hunden, die bereits mit vier Wochen von der Mutter getrennt worden waren. Ähnliches gilt für Hunde aus dem Tierschutz, speziell für solche aus dem Auslandstierschutz. Auch bei diesen Hunden kann man mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ihre Frühsozialisation sowie auch ihre späteren Erfahrungen bis zu ihrer „Adoption“ in vielen Fällen so beschaffen waren, dass daraus Problemverhalten resultieren kann

Wie sieht es nun mit Hunden von Züchtern aus. Wenn man mal annimmt, dass hier in den meisten Fällen die Umweltbedingungen in der Aufzuchtphase angemessen sind, dann bleibt als eine der weiteren entscheidenden Komponenten die Genetik. Verhaltensweisen gehören zu den Merkmalen mit eher niedriger Heritabilität obwohl gerade für aggressives Verhalten auch hohe Heritabilitätswerte ermittelt worden sind.

Damit ein Merkmal sich züchterisch beeinflussen lässt müssen drei wesentliche Voraussetzungen gegeben sein:

  1. Es muss in Bezug auf das Merkmal eine Varianz in der Population vorliegen
  2. Das Merkmal muss eine genetische Grundlage haben
  3. Die Unterschiede zwischen den Hunden müssen sich eindeutig und wiederholbar beurteilen lassen.


Speziell was den dritten Punkt betrifft, liegt der Hase im Pfeffer. Denn Verhalten ist keine wirklich objektiv beurteilbare Größe. Aggressivität lässt sich weder zählen noch messen. Der Beurteilung liegt immer eine subjektive Bewertung zugrunde. Auch wenn im Rahmen von standardisierten Wesenstests durch genaue Beschreibungen der zu prüfenden Verhaltensweisen und der möglichen Reaktionen darauf der subjektive Fehler reduziert wird, bleibt in den meisten Fällen doch immer noch genügend Ermessensspielraum für die Bewertung so dass dem Beurteiler die Rolle der größten Fehlerquelle bei der Bewertung eines Hundes zukommt.

Es gibt diverse Studien in denen Verhaltenstests in Hinblick auf ihre Aussagekraft untersucht worden sind. Dabei sind es im Wesentlichen drei Kriterien, die die Grundlage der Qualität von diagnostischen Verfahren im Rahmen züchterischer Selektionsmaßnahmen sind:

  1. Die Wiederholbarkeit des Prüfergebnisses: das ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei mehrfacher Prüfung ein und desselben Hundes durch den selben oder durch unterschiedliche Prüfer das gleiche Ergebnis erzielt wird.

  2. Die Validität oder Gültigkeit des Prüfergebnisses: das ist die Wahrscheinlichkeit, dass mit einem Prüfverfahren das beurteilt wird was das Ziel der Prüfung ist. Dass also z.B. mit einem Verhaltenstest auch tatsächlich geprüft wird ob der Hund aggressives Problemverhalten zeigt. Dabei spielt der Anteil falsch negativer (ein aggressiver Hund wird fälschlicherweise als nicht aggressiv bewertet) bzw. falsch positiver (ein nicht aggressiver Hund wird fälschlicherweise als aggressiv bewertet) Bewertungen eine wesentliche Rolle.

  3. Die Heritabilität des Prüfergebnisses: Heritabilität ist ein Maß für den genetischen Anteil an der Varianz eines Merkmals in der Population. Das Ergebnis eines Verhaltenstests als Selektionsgrundlage zu verwenden, macht nur dann Sinn, wenn die Heritabilität für die Ergebnisse bestimmter Prüfmerkmale bekannt und ausreichend hoch ist. Ein Problem dabei ist, dass sich die Heritabilitätswerte für ein und das selbe Merkmale zwischen Zuchtpopulationen recht deutlich unterscheiden können. Man müsste also, genau genommen, für jede Rasse die Heritabilität definierter Merkmale extra berechnen.

Zu allen drei Kriterien gibt es eine Reihe von wissenschaftlichen Studien, die im Großen und Ganzen zu dem Ergebnis kommen, dass, mit wenigen Ausnahmen, die verfügbaren Wesenstest weder in Bezug auf die Wiederholbarkeit noch in Bezug auf die Validität und die Heritabilität den Anforderungen eines diagnostischen Verfahrens im Rahmen züchterischer Selektionsmaßnahmen entsprechen.

Ich sehe also den Einsatz von Wesenstest im Rahmen der Selektion durchaus kritisch, zumal nicht nur der Einsatz fälschlicherweise als nicht aggressiv bewerteter Hunde zu einer unerwünschten Weitergabe von aggressionsassoziierten Genen führen kann. Auch der Zuchtausschluss fälschlicherweise als aggressiv bewertetet Hunde schadet der Population, weil damit Gene dieser Hunde der Population unnötigerweise verloren gehen und zu dem in der Rassehundehundezucht ohnehin schon übermäßig großen Problems des Verlustes an genetischer Vielfalt beitragen.

Eine mehr oder weniger automatische Selektion gegen Problemverhalten bietet m.E. die ganz normale Ausstellung. Abgesehen davon, dass in den Ausstellungsordnungen üblicherweise angegeben ist, dass Hunde, die sich im Ring aggressiv bzw. ängstlich verhalten, disqualifiziert werden, bietet die Situation bei der Formwertbewertung eine relativ standardisierte Umweltprovokation. Wenn ein Hund einerseits den Trubel während einer Ausstellung ohne einen Nervenzusammenbruch übersteht und anderseits die bedrohliche Situation bei der Gebisskontrolle (ein ihm fremder Mensch beugt sich über ihn, greift über den Fang und starrt in auf kurze Distanz an) akzeptiert ohne den Richter zu beißen, dann kann er schon mal nicht ganz „daneben“ sein. Allerding stellt sich auch hier wieder die Frage nach der Heritabilität des „Ausstellungsverhaltens“. Denn abgesehen davon, dass gutes Ausstellungbenehmen auch trainiert werden kann, bietet die moderne Veterinärmedizin einiges an Psychopharmaka, die auch einem nervösen und oder aggressiven Hund ermöglichen, erfolgreich an einer Ausstellung teilzunehmen.

Doping im weiteren Sinn ist übrigens auch ein limitierender Faktor für die Aussagekraft von Wesenstest. Dopingkontrollen sind m.W. nicht üblich und damit stehen einem findigen Besitzer eines problematischen Hundes durchaus Möglichkeiten zu Verfügung das Ergebnis eines Wesenstests positiv zu beeinflussen.

Auch zum zweiten Teil der Frage möchte ich noch ein paar Gedanken äußern. Denn eine Entfremdung vieler Menschen von der Natur, insbesondere der des Hundes spielt sicherlich auch eine wesentliche Rolle bei der Zunahme von verhaltensproblematischen Hunden. Ich überblicke nun die Hundeszene inzwischen über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren. Und selbst wenn man nicht sicher sagen kann, ob es in der letzten Zeit tatsächlich mehr Problemhunde gibt oder ob man dank moderner Kommunikationsmedien mehr von Problemhunden erfährt, so werde ich doch das Gefühl nicht los, dass vielen Menschen eine gewisse emotionale Intelligenz im Umgang mit Hunden verloren gegangen ist.

Ob man das jetzt als „Feeling“, „Bauchgefühl“, „Hausverstand“ oder wie auch immer bezeichnet – ich habe den Eindruck, dass immer mehr Hundehalter eher auf irgendwelche Gurus aus dem Internet oder einen der zahlreichen mehr oder weniger selbsternannten „Hundeflüsterer“ vertrauen, als dem eigenen Gefühl, bzw. auch solidem Wissen über Hunde. Erschwert wird die Situation auch dadurch, dass es tatsächlich schwierig ist aus den vielen Angeboten an Hundeschulen, Hundetrainern, Hundecoaches, Hundeflüsterern, Hundekommunikatoren und was es sonst noch so gibt, diejenigen zu finden, die echtes Wissen und echte Erfahrung bieten können. Und da viele Menschen am liebsten ein Patentrezept haben wollen, mit dem sie alle vorhandenen Probleme mit einem Schlag lösen könne, fallen sie auch besonders leicht auf Angebote herein, die eben solche Patentrezepte versprechen. Zumindest ist das eine gute Möglichkeit unter den Angeboten die Spreu vom Weizen zu trennen. Denn ein wirklich guter Hundetrainer bietet keine Patentrezepte an. Denn er weiß, dass jeder Hund ein Individuum ist genauso wie jeder Mensch und damit auch wie jedes Hund-Mensch-Team.

Um also diese komplexe Frage noch zusammenfassend zu beantworten:

Wesenstests im Rahmen der Hundezucht würden grundsätzlich Sinn machen, wenn die methodischen Anforderungen an ein diagnostisches Verfahren im Rahmen der Selektionszucht - ausreichende Wiederholbarkeit, Validität und Heritabilität des Testergebnisses - erfüllt wären. Sehr wichtig ist aber die bei seriösen Züchtern in den meisten Fällen gegebene gute Frühsozialisation der Welpen.

Das gilt aber nur für Hunde, die tatsächlich von seriösen Züchtern stammen. In den Fällen wo die Hunde aus „Hinterhofzuchten“, Billigimporten oder aus unbekannten Quellen stammen, ist Problemverhalten in vielen Fällen vorprogrammiert.
Die Entfremdung des Menschen von der Natur bzw. vom natürlichen Verständnis des Hundes ist sicherlich auch eine der Ursachen für hundliches Problemverhalten und beruht u. a. auf den zahlreichen „Einflüsterungen“ denen Hundebesitzer heute im Rahmen moderner Kommunikationsmedien ausgesetzt sind.

Zum Nachlesen:

Pierantoni et al. (2014): https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21865608

Thema: Gewalt in der Hundeerziehung

Was ist überhaupt „Gewalt“ in Bezug auf Hundeerziehung und wo sind deine persönlichen Grenzen beim Einsatz von Methoden, Trainingstechniken oder Umgangsformen?

Gewalt ist für mich sicher nicht das was heute vielfach schon als Gewalt interpretiert wird. Ein mehr oder weniger scharfes „Nein“, ein leichter Rempler, auch gelegentlich mal ein Leinenruck (am Brustgeschirr) sind für mich durchaus akzeptable Dinge im Umgang mit Hunden. Allerdings immer nur in Bezug auf den individuellen Hund gesehen. Es gibt Hunde, bei denen ein leises „Nein“ reicht, andere muss man nachdrücklicher ansprechen.

Meine persönlichen Grenzen sind individual- und situationsbezogen. In einer gefährlichen Situation würde ich auch mal gewaltsam eingreifen um den Hund vor Schaden zu bewahren. Das passiert ja auch irgendwie reflektorisch. Als unlängst meine junge Hündin Anstalten machte in einen eingeschalteten Elektrozaun zu beißen, habe ich sie so angebrüllt, wie sie es von mir noch nicht kannte. Mit Erfolg, sie hat nicht in den Zaun gebissen und wird es hoffentlich auch nicht wieder versuchen.

In diesem Zusammenhang habe ich übrigens gerade erst eine sehr interessante Lernerfahrung mit meinen Hunden gemacht. Ich habe zur Zeit zwei Hündinnen, eine eineinhalbjährige, sehr souveräne Japanspitzhündin (Linya) und eine sechs Monate alte etwas unsichere Spanische Wasserhündin (Fiona). Die beiden verstehen sich sehr gut und spielen sehr viel miteinander wobei vor allem Rennspiele und Balgespiele durchgeführt werden. Und dabei geht es oft richtig zur Sache. Die kleine (inzwischen ist sie tatsächlich schon größer) Fiona wird von Linya gerempelt, gewuzelt, überrannt, niedergedrückt.

Das Ganze läuft auch umgekehrt, also schön ausgeglichen, mal ist die eine oben mal die andere. Als ich mit Fiona dann das erste Mal in einer Welpengruppe war, habe ich erwartet, dass sie mit den anderen Welpen in etwa genauso spielt – aber zu meinem Erstaunen hat sie sich vor anderen Welpen gefürchtet, ist jedesmal, wenn ihr einer zu nahe gekommen ist, zu mir geflüchtet und wollte partout nicht spielen. Meine Lernerfahrung daraus war, dass zum entspannten Spielen offensichtlich ein ausgeprägtes Grundvertrauen zum Spielpartner gehört. Zu Linya hat Fiona wohl das Vertrauen, dass auch bei grobem Spiel nichts ernsthaft Böses passiert – bei fremden Hunden fehlt dieses Vertrauen und da lässt sich die grundsätzlich eher unsichere Fiona lieber nicht drauf ein. Die souveräne Linya spielt übrigens mit jedem Hund dessen sie habhaft wird.

Und ich denke, dass man diese Überlegung auch auf den Umgang zwischen Mensch und Hund übertragen kann – wenn ein Hund das Grundvertrauen hat, dass ihm von seinem Menschen nichts wirklich Böses passiert, dann wird er auch gelegentlich gröberen Umgang tolerieren. Und auch wieder, das schon oben gesagte: der Umgang mit dem Hund sollte IMMER zu dem Einzelindividuum passen.

Ist Training und Umgang mit dem Hund auf der Grundlage ausschließlich positiver Verstärkung möglich?

Das kann ich nicht wirklich beurteilen, es erscheint mir allerdings unwahrscheinlich. Ich glaube auch, dass es für den Hund leichter ist zu begreifen was er nicht tun soll, wenn ihm das klar und eindeutig durch ein Abbruchsignal kommuniziert wird, als über den Umweg von positiv bestärkten Alternativangeboten. Und eines ist für mich klar: für ein erfreuliches Zusammenleben mit Hunden ist es notwendig Regeln aufzustellen und Grenzen festzulegen. Ich hatte übrigens das Glück, dass meine beiden Hunde bereits mit einem entsprechenden „Wortschatz“ von den jeweiligen Züchterinnen zu mir kamen. Beide kannten das Wort „nein“ und haben von Anfang an darauf entsprechend reagiert.

Wie schätzt du die Hundeszene in Deutschland ein: Was ist „Mainstream“, wie arbeiten die meisten Trainer, wie gehen die meisten Hundebesitzer mit ihren Hunden um?

Das kann ich auch nicht wirklich beurteilen, da wir mit der Hundeszene im Alltag nicht viel zu tun haben. Die wenigen Trainer, die ich bisher persönlich in meiner Rolle als Hundehalterin kennengelernt habe, haben durchwegs primär nach dem Belohnungsprinzip gearbeitet. Und die Hundehalter, die ich persönlich kenne, sind durchwegs nett zu ihren Hunden.

Wie sinnvoll sind Diskussionen in sozialen Medien zu diesem Thema. Produktiv oder nicht?

Wenn es denn wirklich Diskussionen gäbe. Das was in den sozialen Medien abläuft sind aber in den meisten Fällen keine Diskussionen sondern extrem polarisierte „nur meine Meinung ist richtig“ - Sermone. Und damit tatsächlich nicht wirklich produktiv. Im Gegenteil – sie tragen in erster Linie zur Verunsicherung, besonders von unerfahrenen Hundehaltern, bei. Und sie untergraben damit leider häufig den gesunden Menschenverstand. Und der wäre im Umgang mit unseren Hunden in Kombination mit dem was man landläufig als „Bauchgefühl“ bezeichnet wahrlich ein hilfreiches Instrumentarium.

„Ein Hund ist immer
das Spiegelbild seines Menschen.“

© Oliver Jobes, Erziehungs- und Verhaltensberater