Wesenstest bei hunden

Einführung eines Wesenstest

Würde die Einführung eines "Wesenstest" für Zuchthunde der aktuellen Entwicklung von vermehrt unverhältnismäßigem Aggressionsverhalten beim Hund entgegenwirken oder spielt die Entfremdung der Menschen

Petra Krivy ist folgender Meinung

Zuerst einmal: WESEN lässt sich nicht so ohne weiteres TESTEN, deshalb geht es hier eher um Verhalten und Verhaltensweisen/-reaktionen auf bestimmte Situationen, die abgefragt werden. Das Problem bei solchen Veranstaltungen, vor allem, wenn sie zur Zuchtzulassung gedacht sind, ist, dass sie nicht in wirklich einheitlichen Verfahrensabläufen und identischen Umgebungsgegebenheiten und durch gleich orientierte Prüfungskommissionen durchgeführt werden.

Es gibt keine wirklich standarisierten Verfahren für die jeweiligen Hundetypen (und jeder Typ ist nunmal anders) und außerdem hat man es mit Lebewesen zu tun, die selber unterschiedliche Gestimmtheiten aufweisen und Beeinflussungen durch Ort, Zeit, Psyche, Physis u.v.a. unterliegen. Und nicht zu vergessen und zu unterschätzen ist der Mensch am anderen Ende der Leine, der nicht unerhebliche Signale sendet, gewollt und ungewollt, bewusst und unbewusst. Hinzu kommt, dass die Abläufe und Reizsituationen zumeist bekannt sind und daher oft (meistens?) frühzeitig eingeübt werden. Erlerntes allein wurde aber noch niemals vererbt.

Wäre das der Fall, bräuchte kaum ein Kind Schreiben, Lesen und Rechnen lernen, weil es das ja können müsste, wenn die Eltern es einmal erlernt hätten. Sicherlich macht es Sinn, sich Hunde, die in die Zucht geführt werden sollen, genau anzuschauen, um nicht angestrebte Verhaltensweisen wie zB. eine extrem niedrige Reizschwelle und übersteigerte Aggression, Unsicherheit und Instabilität aufzudecken. Doch müssen Intention und Praxis auch zusammenpassen, um zumindest ansatzweise aussagekräftige Resultate zu erzielen / erzielen zu können. Und da darf man bei einer Reihe der gängigen Vorgehensweisen zu Recht Skepsis an den Tag legen.

Dr. Marie Nitzschner hat geantwortet

Ich bin mir gar nicht sicher, ob unangemessenes Aggressionsverhalten tatsächlich vermehrt auftritt, ich kenne keine Erhebungen dazu. Möglicherweise wird es einfach durch die sozialen Netzwerke vermehrt wahrgenommen. Hinzu kommt vermutlich noch eine höhere Sensibilität bezüglich des Themas.

Generell würde es für mich aber total Sinn machen, dass Zuchthunde einen Wesenstest ablegen müssen (wie auch immer der dann aussieht). Gerade Rassen, bei denen es vermehrt zu Angst- oder Aggressionsverhalten kommt, könnten davon profitieren. Erst kürzlich hat eine niederländische Studie gezeigt, dass man die Aggressivität bei Rottweilern im Vergleich zu einer Kontrolpopulation durch entsprechende Zuchtauswahl deutlich verringern kann.
Grundsätzlich finde ich es absolut erschreckend, wie viel Fokus oft auf das Aussehen der Hunde gelegt wird, während die verschiedenen Persönlichkeitsmerkmale weniger eine Rolle zu spielen scheinen.

Den zweiten Teil der Frage kann ich nicht beantworten, weil ich nicht genau weiß, was mit Entfremdung von der Natur in diesem Zusammenhang konkret gemeint ist. Zuchtwesen per se ist ja nichts Natürliches, sondern eine artifizielle Selektion.

Anita Balser ist der Meinung, dass

Wesenstests jeglicher Art haben einen entscheidenden Nachteil: sie müssen standardisiert sein, sonst ist kein Vergleich und keine Auswertung möglich. Und selbst dann noch variieren nach meiner Erfahrung die Ergebnisse je nach dem welchen Hintergrund der jeweilige Prüfer hat und wie er die Prüfungsinhalte auslegt.

Alles in allem wird ein Wesenstest aus meiner Sicht der Individualität des Hundes und noch viel mehr der des Mensch-Hund-Teams nicht gerecht. Ein recht "einfacher" und gut veranlagter Hund kann in den falschen Händen gefährlich werden und ein eher starker und nach vorne orientierter Hund in der richtigen Hand lammfromm sein.

Was nach meiner Erfahrung tatsächlich in den letzten Jahren zugenommen hat ist die Artgenossenaggression, was auch unser Haupttätigkeitsfeld ist. Das, was wir da zur Zeit erleben sind nach meiner Ansicht die Folgen und Konsequenzen all der Jahre in denen reine WelpenSPIELgruppen als ultimative Möglichkeit zur Sozialisierung des Welpen angesehen wurden. Was beim Welpen noch süß und spielerisch aussah, wird spätestens in der Pubertät zum Problem. Dann noch die eine oder andere blöde Erfahrung plus eine futterbasierte Erziehung ohne Grenzen und schon ist sie da, die Leinenaggression.

Wenn ich manch herumquietschenden, mit Clicker, Futter und Dummy bewaffnendem Hundeführer beim Versuch zusehe, seinen Hund an einem anderen Hund vorbei zu dirigieren denke ich schon manchmal: Ob die "Moderne" wirklich der richtige Weg ist und was das den noch mit der Natur des Hundes zu tun hat.

Ich würde aber nicht soweit gehen zu sagen, die Ursache ist die Entfremdung des Menschen von der Natur. Es ist die Entfremdung des Menschen von sich selbst (als Teil der Natur) und es ist sein Bestreben danach "alles richtig machen zu wollen" und vorallem: Dem Hund nicht weh zu tun.

Grenzen aufzuzeigen und durchzusetzen, "Nein" zu sagen, körperlich einzuwirken wenn nötig, all das ist ja nicht mehr "modern". Der Mensch merkt gar nicht, wie er sich in seiner Arroganz alles besser zu wissen und zu können über die einfachsten Regeln hündischer Kommunikation erhebt um sich dann über die Konsequenzen zu wundern.

Und dann sollen Wesenstest retten, was noch zu retten ist. Überall wo Wesenstests quasi "zwangseingeführt" wurden, ist objektiv betrachtet nichts wirklich besser geworden, aber viele Individuen sind durch strenge Regeln hinten runter gefallen.

Die Hundeszene wandelt sich gerade, sehr viele sehen und erkennen die Folgen unserer modernen, positiv bestärkenden Erziehungswelle und denken um. Wenden sich wieder dem Wesen des Hundes zu und finden die natürlichen Gesetzmäßigkeiten wieder.

Ob sich das positiv auswirken wird, werden wir auch da erst in ein paar Jahrzehnten wissen.

Dr. Irene Sommerfeld-Stur meint

Da wäre zunächst mal die Überlegung anzustellen, wie viele der aggressiven Problemhunde denn tatsächlich Hunde von einem seriösen Züchter sind. Denn eine der Hauptursachen für Problemverhalten jeder Art liegt m.E. in einer unzureichenden Frühsozialisation. Bei Hunden die von seriösen Züchtern stammen, kann man in den meisten Fällen davon ausgehen, dass die Welpen in einem Umfeld aufwachsen in dem die wichtigsten Bedürfnisse eines Hundebabys erfüllt sind. Probleme, die aus unzureichender Frühsozialisation herrühren, sind in erster Linie bei solchen Hunden zu erwarten, die aus Billigimporten aus Osteuropa stammen, wo sowohl die Mutterhündinnen als auch die Welpen unter inadäquaten Bedingungen gehalten werden und zudem die Welpen viel zu früh von der Mutter getrennt werden.

Die Probleme, die mit dem zu frühen Absetzen verbunden sind, werden sehr schön in einer Studie von Pierantoni et al. (2014) beschrieben. Eines der in dieser Studie beschriebenen Problemverhalten ist Aggression gegen Fremde bei Hunden, die bereits mit vier Wochen von der Mutter getrennt worden waren. Ähnliches gilt für Hunde aus dem Tierschutz, speziell für solche aus dem Auslandstierschutz. Auch bei diesen Hunden kann man mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ihre Frühsozialisation sowie auch ihre späteren Erfahrungen bis zu ihrer „Adoption“ in vielen Fällen so beschaffen waren, dass daraus Problemverhalten resultieren kann

Wie sieht es nun mit Hunden von Züchtern aus. Wenn man mal annimmt, dass hier in den meisten Fällen die Umweltbedingungen in der Aufzuchtphase angemessen sind, dann bleibt als eine der weiteren entscheidenden Komponenten die Genetik. Verhaltensweisen gehören zu den Merkmalen mit eher niedriger Heritabilität obwohl gerade für aggressives Verhalten auch hohe Heritabilitätswerte ermittelt worden sind.

Damit ein Merkmal sich züchterisch beeinflussen lässt müssen drei wesentliche Voraussetzungen gegeben sein:

Es muss in Bezug auf das Merkmal eine Varianz in der Population vorliegen
Das Merkmal muss eine genetische Grundlage haben
Die Unterschiede zwischen den Hunden müssen sich eindeutig und wiederholbar beurteilen lassen.

Speziell was den dritten Punkt betrifft, liegt der Hase im Pfeffer. Denn Verhalten ist keine wirklich objektiv beurteilbare Größe. Aggressivität lässt sich weder zählen noch messen. Der Beurteilung liegt immer eine subjektive Bewertung zugrunde. Auch wenn im Rahmen von standardisierten Wesenstests durch genaue Beschreibungen der zu prüfenden Verhaltensweisen und der möglichen Reaktionen darauf der subjektive Fehler reduziert wird, bleibt in den meisten Fällen doch immer noch genügend Ermessensspielraum für die Bewertung so dass dem Beurteiler die Rolle der größten Fehlerquelle bei der Bewertung eines Hundes zukommt.

Es gibt diverse Studien in denen Verhaltenstests in Hinblick auf ihre Aussagekraft untersucht worden sind. Dabei sind es im Wesentlichen drei Kriterien, die die Grundlage der Qualität von diagnostischen Verfahren im Rahmen züchterischer Selektionsmaßnahmen sind:

Die Wiederholbarkeit des Prüfergebnisses: das ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei mehrfacher Prüfung ein und desselben Hundes durch den selben oder durch unterschiedliche Prüfer das gleiche Ergebnis erzielt wird.


Die Validität oder Gültigkeit des Prüfergebnisses: das ist die Wahrscheinlichkeit, dass mit einem Prüfverfahren das beurteilt wird was das Ziel der Prüfung ist. Dass also z.B. mit einem Verhaltenstest auch tatsächlich geprüft wird ob der Hund aggressives Problemverhalten zeigt. Dabei spielt der Anteil falsch negativer (ein aggressiver Hund wird fälschlicherweise als nicht aggressiv bewertet) bzw. falsch positiver (ein nicht aggressiver Hund wird fälschlicherweise als aggressiv bewertet) Bewertungen eine wesentliche Rolle.


Die Heritabilität des Prüfergebnisses: Heritabilität ist ein Maß für den genetischen Anteil an der Varianz eines Merkmals in der Population. Das Ergebnis eines Verhaltenstests als Selektionsgrundlage zu verwenden, macht nur dann Sinn, wenn die Heritabilität für die Ergebnisse bestimmter Prüfmerkmale bekannt und ausreichend hoch ist. Ein Problem dabei ist, dass sich die Heritabilitätswerte für ein und das selbe Merkmale zwischen Zuchtpopulationen recht deutlich unterscheiden können. Man müsste also, genau genommen, für jede Rasse die Heritabilität definierter Merkmale extra berechnen.
Zu allen drei Kriterien gibt es eine Reihe von wissenschaftlichen Studien, die im Großen und Ganzen zu dem Ergebnis kommen, dass, mit wenigen Ausnahmen, die verfügbaren Wesenstest weder in Bezug auf die Wiederholbarkeit noch in Bezug auf die Validität und die Heritabilität den Anforderungen eines diagnostischen Verfahrens im Rahmen züchterischer Selektionsmaßnahmen entsprechen.

Ich sehe also den Einsatz von Wesenstest im Rahmen der Selektion durchaus kritisch, zumal nicht nur der Einsatz fälschlicherweise als nicht aggressiv bewerteter Hunde zu einer unerwünschten Weitergabe von aggressionsassoziierten Genen führen kann. Auch der Zuchtausschluss fälschlicherweise als aggressiv bewertetet Hunde schadet der Population, weil damit Gene dieser Hunde der Population unnötigerweise verloren gehen und zu dem in der Rassehundehundezucht ohnehin schon übermäßig großen Problems des Verlustes an genetischer Vielfalt beitragen.

Eine mehr oder weniger automatische Selektion gegen Problemverhalten bietet m.E. die ganz normale Ausstellung. Abgesehen davon, dass in den Ausstellungsordnungen üblicherweise angegeben ist, dass Hunde, die sich im Ring aggressiv bzw. ängstlich verhalten, disqualifiziert werden, bietet die Situation bei der Formwertbewertung eine relativ standardisierte Umweltprovokation. Wenn ein Hund einerseits den Trubel während einer Ausstellung ohne einen Nervenzusammenbruch übersteht und anderseits die bedrohliche Situation bei der Gebisskontrolle (ein ihm fremder Mensch beugt sich über ihn, greift über den Fang und starrt in auf kurze Distanz an) akzeptiert ohne den Richter zu beißen, dann kann er schon mal nicht ganz „daneben“ sein. Allerding stellt sich auch hier wieder die Frage nach der Heritabilität des „Ausstellungsverhaltens“. Denn abgesehen davon, dass gutes Ausstellungbenehmen auch trainiert werden kann, bietet die moderne Veterinärmedizin einiges an Psychopharmaka, die auch einem nervösen und oder aggressiven Hund ermöglichen, erfolgreich an einer Ausstellung teilzunehmen.

Doping im weiteren Sinn ist übrigens auch ein limitierender Faktor für die Aussagekraft von Wesenstest. Dopingkontrollen sind m.W. nicht üblich und damit stehen einem findigen Besitzer eines problematischen Hundes durchaus Möglichkeiten zu Verfügung das Ergebnis eines Wesenstests positiv zu beeinflussen.

Auch zum zweiten Teil der Frage möchte ich noch ein paar Gedanken äußern. Denn eine Entfremdung vieler Menschen von der Natur, insbesondere der des Hundes spielt sicherlich auch eine wesentliche Rolle bei der Zunahme von verhaltensproblematischen Hunden. Ich überblicke nun die Hundeszene inzwischen über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren. Und selbst wenn man nicht sicher sagen kann, ob es in der letzten Zeit tatsächlich mehr Problemhunde gibt oder ob man dank moderner Kommunikationsmedien mehr von Problemhunden erfährt, so werde ich doch das Gefühl nicht los, dass vielen Menschen eine gewisse emotionale Intelligenz im Umgang mit Hunden verloren gegangen ist.

Ob man das jetzt als „Feeling“, „Bauchgefühl“, „Hausverstand“ oder wie auch immer bezeichnet – ich habe den Eindruck, dass immer mehr Hundehalter eher auf irgendwelche Gurus aus dem Internet oder einen der zahlreichen mehr oder weniger selbsternannten „Hundeflüsterer“ vertrauen, als dem eigenen Gefühl, bzw. auch solidem Wissen über Hunde. Erschwert wird die Situation auch dadurch, dass es tatsächlich schwierig ist aus den vielen Angeboten an Hundeschulen, Hundetrainern, Hundecoaches, Hundeflüsterern, Hundekommunikatoren und was es sonst noch so gibt, diejenigen zu finden, die echtes Wissen und echte Erfahrung bieten können. Und da viele Menschen am liebsten ein Patentrezept haben wollen, mit dem sie alle vorhandenen Probleme mit einem Schlag lösen könne, fallen sie auch besonders leicht auf Angebote herein, die eben solche Patentrezepte versprechen. Zumindest ist das eine gute Möglichkeit unter den Angeboten die Spreu vom Weizen zu trennen. Denn ein wirklich guter Hundetrainer bietet keine Patentrezepte an. Denn er weiß, dass jeder Hund ein Individuum ist genauso wie jeder Mensch und damit auch wie jedes Hund-Mensch-Team.

Um also diese komplexe Frage noch zusammenfassend zu beantworten:

Wesenstests im Rahmen der Hundezucht würden grundsätzlich Sinn machen, wenn die methodischen Anforderungen an ein diagnostisches Verfahren im Rahmen der Selektionszucht - ausreichende Wiederholbarkeit, Validität und Heritabilität des Testergebnisses - erfüllt wären. Sehr wichtig ist aber die bei seriösen Züchtern in den meisten Fällen gegebene gute Frühsozialisation der Welpen.

Das gilt aber nur für Hunde, die tatsächlich von seriösen Züchtern stammen. In den Fällen wo die Hunde aus „Hinterhofzuchten“, Billigimporten oder aus unbekannten Quellen stammen, ist Problemverhalten in vielen Fällen vorprogrammiert.
Die Entfremdung des Menschen von der Natur bzw. vom natürlichen Verständnis des Hundes ist sicherlich auch eine der Ursachen für hundliches Problemverhalten und beruht u. a. auf den zahlreichen „Einflüsterungen“ denen Hundebesitzer heute im Rahmen moderner Kommunikationsmedien ausgesetzt sind.

Zum Nachlesen:

Pierantoni et al. (2014): https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21865608

„Ein Hund ist immer
das Spiegelbild seines Menschen.“

© Oliver Jobes, Erziehungs- und Verhaltensberater